 
                                        Arbeit als Ablenkung: zwischen Stabilisierung und Verdrängung
Arbeit kann in schweren Zeiten tragen. Sie gibt Struktur, Sinn und Kontakt. Nach dem Verlust meines dritten Kindes vor über acht Jahren habe ich das erlebt. Arbeit bzw. Aufgaben auf meiner ToDo hielten mich handlungsfähig. Gleichzeitig lernte ich: Tun kann Fühlen verdecken. Beides braucht Raum.
Trauer kommt in Wellen
Am Anfang reißen Dich die Wellen tief nach unten und lassen Dich untergehen. Mit der Zeit lernst Du, sie besser zu antizipieren und zu leben: untertauchen, Luft anhalten, wieder auftauchen und tief durchatmen. Und genau dabei hilft Dir Deine Arbeit. Sie kann Dich in ruhigeren Phasen stabilisieren und ablenken, so dass Du die starken Wellen nicht so tief fühlen musst.
Ablenkung ist somit ein bewusster Fokuswechsel und kurzfristig sicher hilfreich. Verdrängung schiebt Gefühle systematisch weg. Das entlastet jedoch nur punktuell, verbraucht sehr viel Deiner Energie und führt oft zu noch mehr Erschöpfung, Dünnhäutigkeit und innerer Leere. Der Übergang ist fließend. Entscheidend sind Absicht, Grenzen, Pausen und Rituale.
Woran merkst Du, dass es kippt?
Pausen fallen schwer und Leerlauf macht sofort unruhig. Überstunden werden zur Norm, der Schlaf, Ernährung und Bewegung leiden, Beziehungen rutschen nach hinten. Du reagierst schneller gereizt und empfindest hohe Sinnlosigkeit. Abschalten gelingt nur noch mit Alkohol, Trostessen oder endlosem Scrollen. Arbeit wird weniger Gestaltung und mehr Mittel, „nichts zu fühlen“.
Vier Resilienz-Bausteine für mehr Gleiten mit den Wellen
Einbindung:
Verlässliche Absprachen mit Dir selbst und einer Vertrauensperson. Ein Satz reicht: „Heute ist es schwer. Ich nehme mir 10 Minuten.“
Verantwortung:
Klare Arbeitsgrenzen. Start, Ende und Pausen stehen im Kalender. Hilfreich ist ein täglicher Sorgen-Slot von 10–15 Minuten, in dem belastende Gedanken gesammelt und dann bewusst geschlossen werden.
Optimismus:
Sichtbare Mikro-Erfolge statt Wunschdenken. Notiere abends drei gelungene Dinge und kläre kurz, wofür genau diese Aufgabe sich lohnt.
Akzeptanz:
Wellen benennen, ruhig atmen, zwei bis fünf Minuten dabeibleiben und anschließend bewusst in Tätigkeit oder in Ruhe wechseln. Rituale geben Form: Kerze, Foto, Ort, Datum.
Kleine Hebel tragen weit.
Damit sie wirken, gib ihnen einen festen Platz.
- Starte mit einem Gefühlsfenster: zweimal täglich je drei Minuten. Atme vier Takte ein und sechs aus und benenne, was da ist.
- Sammle Störgedanken auf einer Parkplatz-Liste und bearbeite sie nur im Sorgen-Slot.
- Ziehe am Wochenende ein kurzes Review: Welche Aufgaben nähren, welche sind neutral, welche betäuben.
- Geh täglich draußen 100 Schritte in voller Präsenz.
- Setze Grenzen mit einer konkreten Bitte und einem klaren Nein pro Woche.
- Für den Arbeitstag brauchst Du einen Takt. Nutze bewährte Rhythmen (wie Pomodoro etc.), die Du an vier von fünf Tagen ohne Anstrengung halten kannst.
Zum Einordnen hilft ein kurzer Selbstcheck.
Frage Dich: Arbeite ich heute, um zu gestalten oder um nicht zu fühlen? Hatte ich diese Woche mindestens zwei echte Erholfenster? Sagen andere, ich sei nicht richtig da? Wie oft schiebe ich Wichtiges mit „keine Zeit“ weg? Ist mein Schlaf erholsam? Welche eine Tätigkeit außerhalb der Arbeit nährt mich? Habe ich heute zwei bis fünf Minuten bewusst gefühlt und es benannt?
Wenn Du führst oder im Team arbeitest, schaffe klare Rahmen.
Trefft Absprachen zu Aufgaben, Zeiten und Erreichbarkeit. Verteilt Lasten in Spitzen flexibel und benennt ein Backup. Nutzt kurze Check-ins: „Belastung heute 0–10. Was hilft bis morgen?“ Etabliert Peer-Support und eine vertrauliche Anlaufstelle. Achtet auf die Wellenbewegung bei Euch selbst und bei anderen.
Wann Hilfe holen?
Zusätzliche Hilfe ist sinnvoll, wenn Schlaf über Wochen schlecht bleibt, innere Unruhe nicht abnimmt, körperliche Beschwerden ohne Befund auftreten, der Rückzug wächst oder Betäubungsstrategien zunehmen. Unterstützung zu nutzen ist gelebte Verantwortung.
Arbeit darf durch die Wellen tragen, sie soll nichts verstecken.
Wenn Du die Wellen annehmen lernst und bewusst arbeitest, bleibst Du handlungsfähig und klar.
Dort liegt Resilienz im Alltag.