
„Früher war alles besser?“ – Warum alte Maßstäbe neue Talente vertreiben
Ich höre ihn oft – in Teams, in Führungsgesprächen oder auch im privaten Umfeld:
„Die jungen Leute wollen nicht mehr arbeiten.“
Und jedes Mal denke ich: Wirklich? Ist das so?
Ich kann nicht glauben, dass früher alles besser war. Diesen Satz haben vermutlich schon die alten Griechen genutzt, wenn sie über ihre Jugend den Kopf geschüttelt haben.
Also habe ich mir die Mühe gemacht, nach belastbaren Studien zu suchen. Denn die Vorwürfe, die jungen Menschen heute gemacht werden, sind erstaunlich ähnlich – nur die Welt, in der sie arbeiten, hat sich radikal verändert.
1. Alte Bilder – neue Wirklichkeit
Was früher als „Leistung“ galt, war sichtbar: Anwesenheit, Einsatz, lange Stunden. Heute zeigt sich Engagement anders – digital, vernetzt, flexibel. Forschung spricht inzwischen von „Youngism“ – unbewussten Vorurteilen gegenüber Jüngeren (OUP, 2025).
Sie werden als anspruchsvoll oder bequem bezeichnet, obwohl empirische Daten das Gegenteil zeigen.
Vielleicht geht es also weniger um fehlendes Engagement – sondern um veränderte Ausdrucksformen von Verantwortung.
2. „Die wollen alle Teilzeit!“ – oder: Balance statt Dauerbelastung
Ja, viele junge Menschen wünschen sich weniger als 100 %. Aber das bedeutet nicht, dass sie weniger leisten wollen.
Laut Deloitte 2025 und dem BIBB-Report 2019 wählen sie Teilzeit, um Gesundheit, Familie, Weiterbildung oder Sinnprojekte bewusst einzubeziehen. Sie wollen leben, nicht nur funktionieren – eine Haltung, die Burnout vorbeugt und langfristige Leistungsfähigkeit sichert.
Früher nannte man das vielleicht Vernunft, heute heißt es Work-Life-Balance.
3. „Die wollen keine Verantwortung mehr übernehmen!“ – oder: Verantwortung anders definiert
Auch das stimmt so nicht. Junge Menschen übernehmen Verantwortung – aber sie wollen sie teilen, nicht heroisch schultern.
Sie verstehen Verantwortung als kooperativen Prozess: gemeinsam Lösungen finden, transparent entscheiden, Feedback einfordern. Das klassische Bild vom Einzelkämpfer an der Spitze verliert an Strahlkraft.
Stattdessen zählen geteilte Führung, Teamwirksamkeit und psychologische Sicherheit – Faktoren, die Studien (u. a. Harvard Business Review 2019) als Erfolgsmerkmale moderner Organisationen beschreiben.
4. Selbstführung – eine neue Form von Stärke
Viele junge Menschen legen Wert auf mentale Gesundheit, Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Was früher als „Empfindlichkeit“ galt, ist heute Ausdruck von Selbststeuerung und Verantwortungsbewusstsein: zu erkennen, wann es zu viel wird, und bewusst Grenzen zu setzen.
Studien bestätigen das: Die OECD nennt Self-Management eine Schlüsselkompetenz der Zukunft, die Sinus-Jugendstudie 2024 beschreibt junge Erwachsene als gesundheitsorientiert und reflektiert im Umgang mit Belastung. Auch die Deloitte-Erhebung 2025 zeigt, dass viele Strategien entwickeln, um Stress zu regulieren und Energie gezielt einzusetzen. Das ist kein Rückzug, sondern eine Haltung, die Resilienz fördert – und langfristig Organisationen stabiler macht.
Selbstführung bedeutet heute: sich selbst ernst zu nehmen, um handlungsfähig zu bleiben.
5. Sichtbarkeit – Engagement im Wandel
Ein Großteil der Arbeit junger Menschen findet in digitalen Räumen statt – in Projekten, Netzwerken oder hybriden Teams. Vieles davon bleibt unsichtbar: Kommunikation, Koordination, Ideenaustausch. Doch unsichtbare Arbeit ist nicht weniger wertvoll – sie braucht nur neue Formen der Anerkennung.
Aktuelle Untersuchungen (u. a. Harvard Business Review 2023, Fraunhofer IAO 2022, Hans-Böckler-Stiftung 2023) zeigen, dass in hybriden Strukturen oft diejenigen übersehen werden, die leise, aber effektiv wirken. Das betrifft besonders junge Mitarbeitende, die digital stark sind, aber seltener „sichtbar performen“.
Vielleicht geht es also weniger darum, wer am lautesten auftritt – sondern darum, wie wir Leistung wahrnehmen.
Führung, die Wirkung statt Anwesenheit misst, erkennt Engagement, das sonst im Verborgenen bleibt.
6. Unterschiedliche Welten – gleiche Bedürfnisse
Natürlich erleben nicht alle Berufsgruppen die Arbeitswelt gleich. Während Wissensarbeit oft digital, flexibel und ortsunabhängig geworden ist, bleibt das Handwerk, die Pflege oder die Produktion an Ort, Zeit und Präsenz gebunden.
Doch hinter beiden Realitäten steht dieselbe Sehnsucht: Anerkennung, Einfluss, Selbstwirksamkeit, Kompetenzerleben und Sinn.
Die Diskussion um Homeoffice und Vier-Tage-Woche darf also nicht spalten, sondern verbinden. Denn junge Handwerker*innen, Pflegekräfte oder Techniker zeigen ebenso Engagement – nur unter anderen Bedingungen. Und auch sie wünschen sich, dass ihre Arbeit gesehen und geschätzt wird, jenseits von Schlagworten wie „Fleiß“ oder „Flexibilität“.
Unterschiedliche Spielräume – gleiche Würde. Die Zukunft der Arbeit sollte beiden Seiten gerecht werden.
7. Ein Perspektivwechsel tut gut
Vielleicht war früher manches einfacher – aber nicht unbedingt besser. Damals gab es weniger Wahlmöglichkeiten, weniger Unsicherheit, weniger Fragen nach Sinn.
Heute fordern junge Menschen genau das ein, was Organisationen zukunftsfähig macht: Transparenz, Lernkultur, Feedback und psychische Gesundheit.
Das ist keine Bequemlichkeit, sondern Bewusstsein für Grenzen und Ressourcen. Und es lädt dazu ein, Führung neu zu denken: weniger Kontrolle, mehr Vertrauen.
Fazit: Zukunft statt Vergleich
Der Satz „Früher war alles besser“ übersieht, dass sich Arbeit verändert hat. Junge Menschen bringen Energie, digitale Kompetenz und Wertebewusstsein mit – und sie wünschen sich, dass das gesehen wird.
Vielleicht ist die entscheidende Frage also nicht:
„Warum sind sie nicht mehr wie wir?“ sondern: „Wie können wir gemeinsam Zukunft gestalten?“
Quellen (Auswahl)
Deloitte Global Gen Z & Millennial Survey 2025 · OUP Academic „Workplace Youngism“ (2025) · SAGE Journals 2023/24 · Harvard Business Review 2019 & 2023 · OECD Skills Outlook 2021 · Sinus Jugendstudie 2024 · BIBB-Report 2019 · Fraunhofer IAO 2022 · Hans-Böckler-Stiftung 2023 · NEOBE 2024